Wirbelsäule & Schmerz – Prävention & Rehabilitation

Wirbelsäule & Schmerz – Prävention & Rehabilitation

Wirbelsäule & Schmerz – Prävention & Rehabilitation

Die Kombination aus stetig steigender Lebenserwartung, steigender Anzahl an Patienten mit Bewegungsmangel und Übergewicht und deren Folgeerscheinungen und steigender Beliebtheit sportlicher Aktivitäten mit hohem Verletzungsrisiko führt zu zunehmender Bedeutung von Bewegungstherapie,  Rehabilitation und medizinischer Prävention.

Als Jäger und Sammler ist der biologische Bauplan des Menschen auf ein hohes Ausmaß an Bewegung ausgerichtet. Seit Beginn der industriellen Revolution vor mehr als 200 Jahren erfolgt jedoch eine stetige Reduktion von körperlicher Arbeit und eigener Fortbewegung durch Maschinen. Die Folgen sind, dass der Bewegungsapparat und das Herz-Kreislaufsystem für den modernen Menschen überdimensioniert sind und nötige Reize zur Aufrechterhaltung von Organfunktionen und somit Vermeidung von Fehlfunktionen fehlen.

Krankheiten durch Mangel an Bewegung und körperlicher Arbeit und Zwangshaltungen im Rahmen des beruflichen Alltags bei relativer Überernährung und psycho-sozialem Stress stellen heute die häufigste Krankheitsursache der Industriegesellschaft dar.

Speziell chronische und akute Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule steigen stetig. Betroffen sind nahezu alle Altersgruppen, beginnend mit der Fehlhaltung von Schulkindern und Jugendlichen über die, oft durch Bewegungsmangel und Haltungsverfall ausgelösten, Beschwerden von Erwachsenen bis zu schweren degenerativ bedingten Problemen des Alters.

Neue Therapiemöglichkeiten für entsprechende Indikationen ermöglichen spezifische Therapien und helfen schädigenden Einwirkungen auf die Wirbelsäule entgegenzutreten.

Eine wesentliche Bedeutung kommt hierbei der Präventivmedizin zu. Medizinische Prävention (nach G. Caplan 1964 und M. Jamoulle 1986) unterteilt man in Primär-, Sekundär-, Tertiär- und Quartärprävention.

Aufgabe der Primärprävention ist die Verhinderung des Neuauftretens einer Erkrankung. Sie setzt somit vor Eintreten der Erkrankung an. Die Erkennung jener Störfaktoren, die anfänglich noch ohne krankmachenden Effekt und in ihrer Gesamtheit später krankheitsverursachend sind, ist hier wesentlich.

Die Sekundärprävention erfolgt im Frühstadion der Erkrankung mit den Zielen Früherkennung und Verhinderung von Progredienz und Chronifizierung von Erkrankungen.

Die Tertiärprävention hat das Ziel nach Manifestation und ggfs. Akutbehandlung einer Erkrankung Folgeschäden und Rückfälle zu vermeiden.

Unter Quartärprävention versteht man die Verhinderung  von unnötiger Medizin und „Übermedikalisierung“ (Primum non nocere).

Screenig, Ernährung, Bewegung zur Kräftigung, Stabilisation und gegebenenfalls Korrektur des Stütz- und Bewegungsapparates (z.b. von Beinlängenunterschieden welche zu skoliotischen Fehlhaltungen der Wirbelsäule führen) sowie zur Verbesserung der Organfunktionen des Herz- Kreislaufsystems, Arbeitsplatzergonomie, Stressbewältigung und Suchtprävention, sind Pfeiler der Therapie und Prävention.

Somit ist eine individuelle Analyse von Haltung, statischen Verhältnissen (Becken-, Schulterschiefstand, Skoliose, etc.), Organfunktionen, akuten sowie chronischen Schmerzen und biopsychosozialen Verhältnissen vor Therapiebeginn unerlässlich.

Die Behandlungsziele beinhalten Schmerztherapie, Normalisation des Muskeltonus, Therapie von Gelenksdysfunktionen und -fehlstellungen, Stabilisation des muskuloskelettalen Systems und Prophylaxe durch Erkennen und Beseitigen von auslösenden Faktoren.

Nach den aktuellen Richtlinien ist ein multimodales, auf Indikation und jeweiligen Patienten zugeschnittenes Therapiekonzept zu empfehlen. Die therapeutischen Möglichkeiten beinhalten medikamentöse Schmerztherapie, Heilgymnastik, Kraft-, Ausdauertraining, Manualtherapie, Elektrotherapie, Kälte-, Wärmetherapie, Massage, Akupunktur, psychologische Beratung, diätologische Beratung, medizinische Prävention und Telerehabilitation.

In Abhängigkeit vom individuellen Status des/der Patienten/in können neuere Therapiemethoden wie kaltes Rotlicht (z.b. Ortholumm, Repuls), Extrakorporelle Stoßwellentherapie, Spineliner-Therapie, therapeutisches Klettern, gewichtsentlastendes Training für Wirbelsäule (z.b. Schlingen-Training, Red Cord, Alter G) Extensions- und Vibrationstherapie (z.b. Red Cord, Evocell), posturographisches Training (z.b. Sensewave) und Kinesiotaping maßgeblich zum Therapieerfolg beitragen.

Therapieoptionen

Zur Erreichung dieser Ziele steht eine Vielzahl an altbewährten und modernen Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, von denen einige essentielle im folgenden erwähnt werden.

Die medikamentöse Schmerztherapie nach dem WHO-Schema mit ihren verschiedenen Applikationsformen ist ein wichtiger Bestandteil dieses Therapiekonzepts.

Besonders zu erwähnen ist hier die Infiltrationstherapie als intramuskuläre Injektion in myofasziale Triggerpunkte mit Lidocain in Kombination mit Dehnungsübungen bei lokaler Schmerz- und Verspannungssymptomatik. In Form von intraforaminellen und intralaminären Injektionen unter Röntgennavigation und häufig in Kombination mit Glucocorticoiden wird sie bei radikulärer Symptomatik eingesetzt. Weitere Anwendungsgebiete sind intraartikuläre Infiltrationen mit Lidocain, meist in Kombination mit Glucocorticoiden bei lokalen Reizzuständen von Gelenken im Rahmen von Überlastungen und Arthrosen.

Die physikalische Heilgymnastik als Einzel- oder Gruppentherapie und die selbständige Fortführung der erlernten Übungen sind die Grundform jeder Bewegungstherapie. Zur Korrektur der Körperhaltung ist eine korrigierende und stabilisierende Heilgymnastik sowie in weiterer Folge eine Arbeitsplatzoptimierung unerlässlich.

Es muss zwischen muskulären, knöchernen und nervalen Ursachen von Fehlhaltungen unterschieden werden.

Muskulär verursachte Beschwerden lassen sich mit Tiefenstabilisation, z. B. mit Schwungstab oder Redcord-Training (s. unten), allgemeinen Kräftigungsübungen der betroffenen Muskulatur, z. B. mit Theraband oder Sling-Training, Dehnungsübungen, z. B. mit Redcord-System, und nach dem Fasziendistorsionsmodell (FDM) behandeln.

Knöcherne Ursachen können vor allem durch aktive Bewegungsübungen und passiv durch manuelle Therapie behandelt werden.

Nerval verursachte Beschwerden können durch Nervenmobilisation, manuelle Therapie und Dehnungsübungen therapiert werden.

Das therapeutische Klettern zeigt positiven Einfluss auf Motorik, Kognition und Emotion und besonders ist durch gleichmäßiges Training mittels isotoner wie auch isometrischer Kontraktion besonders bei Haltungsschwäche und Instabilität geeignet.
Kraft- Ausdauer- und Koordinationstraining dienen der Verbesserung der Beweglichkeit („range of motion“, ROM), Stabilisierung und der Funktionsverbesserung.

Mindestens 30 Minuten Ausdauersport und 15 Minuten Kräftigungsübungen für die Rumpfmuskulatur sollten täglich erfolgen. (American College of Sports Medicine) Dehnungsübungen und Koordinationstraining, am besten mit posturographischer Analyse und Kontrolle sind ergänzend notwendig. Die Posturographie als Verfahren zur Ermittlung der Funktionsfähigkeit der Gleichgewichtsregulation unter Belastung der unteren Extremitäten und das posturographische Training auf instabilem Untergrund sind ein essentielles Training für das Verhalten in extremen Bewegungssituationen und dienen somit als wichtiges Mittel zur Sturzprävention. Dieses Training hat positiven Einfluss auf Sensorik, Motorik, Gleichgewicht, Kräftigung der stützenden Komponenten und der Überwindung psychischer Hemmfaktoren.

Gang- und Standanalyse gehören zu den Standards bei Pathologien der Wirbelsäule und der unteren Bewegungskette. Moderne Geräte mit Laufband ermöglichen zudem computerkontrolliertes Training des Gangbildes, entweder durch Bewältigung von virtuellen Hindernisparcours am Bildschirm oder durch beamergesteuerte Projektion von Fußabdrücken auf die Lauffläche des Laufbandes, wodurch das vorliegende pathologische Gangbild computerkontrolliert in ein korrigiertes physiologisches Gangmuster übergeführt werden kann. Gewichtsentlastung und Sicherung durch entsprechende Gurtsysteme sind hier sehr hilfreich.

Gewichtsentlastendes Training der oberen oder unteren Extremitäten ist nach Verletzungen, Operationen oder bei chronischen Reizzuständen essentiell. Systeme mit Gewichtsentlastung der unteren Extremitäten durch Überdruck sind denen mit Gewichtsentlastung durch Gurtsysteme durch einfachere Anwendbarkeit und exaktere Gewichtsreduktion in der Regel überlegen.

Gewichtsentlastendes Training der oberen Extremität mittels Schlingentraining (sling-trainer) erfolgt durch ein einfaches Seil-Schlaufen-System, das durch vibrierende Instabilität wirkt. Die Wirkung beruht auf der Stimulation von Gelenkrezeptoren, der Kräftigung und Aktivierung der lokalen Stabilisatoren sowie der Verbesserung der Koordination. Subkutane und chronische Funktionseinschränkung, reduzierte lokale Stabilität, gestörte Sensomotorik und muskuläre Defizite können damit schonend therapiert werden.

Die Extensionstherapie mittels Redcord-System nutzt ein verschiebbares, komplexes Seil-Schlaufen-System zur neuromuskulären Stimulation und zur Wiederherstellung funktioneller Bewegungsmuster durch Wiederherstellung der neuromuskulären Kontrolle und Aktivierung von Muskelketten. Eine instabile Aufhängung aus einem System von Seilen, Expandern und Schlingen führt durch Vibration zur Aktivierung der geschlossenen kinetischen Kette. Vorteile dieser Therapieform sind ein stufenlos verstellbarer Widerstand und eine schnelle Veränderung der Belastung. Der Behandlungsansatz zielt darauf ab, Schmerzen während der Behandlung konsequent zu vermeiden.

Die Aquatherapie als Urform des gewichtsentlastenden Trainings ermöglicht gelenkschonendes Training mit Widerstand, welches durch entsprechende Hilfsmittel, wie z.b. Wasserhanteln, Auftriebsgürteln oder Widerstandshandschuhen adaptiert werden kann. Sie sollte in jedem Therapiekonzept berücksichtigt werden.

Manuelle Therapie ist bei Blockierungen und Hypermobilität bzw. Instabilität indiziert, wobei Manipulationen und/oder Mobilisationen in Kombination mit Physiotherapie besonders wirksam sind. Manipulationen sollten nur dann durchgeführt werden, wenn eine Mobilisation keine völlige Befreiung des Segments ergibt und der lokale Schmerz eine Manipulation zulässt.

Elektrotherapie mit Gleich- oder Wechselströmen ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Bei metallischen Implantaten sollte kein Gleichstrom eingesetzt werden. Der Einsatz der Elektrotherapie erfolgt zur Muskel- und Nervenstimulation, Durchblutungsförderung und Schmerzlinderung. Im Rahmen der Iontophorese (Gleichstrom) können zusätzlich Medikamente, die eine elektrische Ladung aufweisen, entlang des elektrischen Feldes in tieferliegendes Gewebe transportiert werden (z.b. Salicylate).

Ultraschalltherapie zeichnet sich durch Tiefenwirkung im Gewebe aus und führt durch lokale Mehrdurchblutung zur Ankurbelung des Zellstoffwechsels und ist daher postoperativ und posttraumatisch hervorragend einsetzbar.

Thermotherapie als lokale Wärme- oder Kältetherapie ist bei lokalisierten Schmerzen eine weitere Therapieoption.

Massagetherapie kann je nach Indikation in Form von Streichungen, Friktionen, Knetungen, Vibrationen oder Klopfungen als Ergänzung ins Therapieschema einfließen.

Psychologische Betreuung im Sinne zumindest eines Motivationsgesprächs und je nach Bedarf psychopathologische Anamnese (ggf. Gutachten), Biofeedback, EMG, Diskriminationstraining (Entspannung vs. Anspannung), Herzratenvariabilität (Anpassung von Puls und Atmung), Entspannungstraining, Krankheits-, Schmerz- und Stressbewältigungstherapie (Burn-out-Prävention) sind im Rahmen stationärer Therapie unerlässlich und bei ambulanter Therapie oft hilfreich.

Diätologische Betreuung im Sinne von Ernährungstherapie (Diabetes mellitus, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, gastrointestinale Unverträglichkeiten, Adipositas, Prävention etc.), „body composition assessment“ (BCA) als Fettanteilsmessung mittels Infarotlicht und Bioimpendanzanalyse (elektrische Gewebewiderstandsmessung) sind für nahezu jeden Patienten sinnvoll.

Medizinische Prävention (Unterteilung nach Caplan [1] und Jamoulle [2] in Primär-, Sekundär-, Tertiär- und Quartärprävention) muss fixer Bestandteil jedes Therapieplans sein.

Diese beinhaltet u.a. Arbeitsplatzergonomie zur Beseitigung verursachender Störungen, rücken- und gelenksgerechtes Alltagsverhalten und Vermeiden besonders belastender Bewegungen.

Zusatztherapien

Darüber hinaus können bei entsprechender Indikation zusätzliche Therapien zur Individualisierung des multimodalen Therapieschemas eingesetzt werden. Unter anderem sollten hier Kaltes Rotlicht (hochintensives, gepulstes, kaltes Rotlicht zur Reduktion von Entzündungen und Schmerzen), extrakorporale Stoßwellentherapie (ESWT) (z.b. zur Triggerpunkttherapie, Therapie bei Tendinitis calcarea, Epicondylitis radialis humeri und Fascitis plantaris), Spinelinertherapie (bei Funktionsstörung, Blockierung oder Abnützung von Wirbelgelenken), Therapie nach dem Fasziendistorsionsmodell (FDM) nach Typaldos, Kinesiotaping (zur Verbesserung des Lymphabflusses und der Blutzirkulation, zur Entlastung der Schmerzrezeptoren und zur Förderung des Heilungsprozesses) und Elemente der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wie z.b. Akupunktur berücksichtigt werden.

Fazit

Ein individuelles, durch den Facharzt, Therapeuten und Patienten erarbeitetes, multimodales Behandlungsschema bestehend aus einer Kombination von Schmerztherapie, aktiven und passiven physikalischen Therapien unter Berücksichtigung der biopsychosozialen Komponenten (Gewichts- und Stressreduktion, Arbeitsplatzergonomie) ist das oberste Ziel bei Bewegungstherapie und Rehabilitation. Bei entsprechender Indikation können Zusatztherapien angewendet werden. Im Anschluss sollte Kontrolle und Fortführung der erlernten heilgymnastischen Übungen mittels Telerehabilitation erfolgen. Dies ist unter Verwendung eines Tablet-PCs mit entsprechender Software möglich. Das Ziel ist hinzugewonnene Jahre bei möglichst guter Gesundheit zu verbringen.

Schlussfolgerung

Ein multimodales Behandlungsschema mit Kombination aus gegebenenfalls Schmerztherapie, aktiven und passiven physikalischen Therapien unter Berücksichtigung  der biopsychosozialen Komponenten und im Einzelfall anzuwendenden Zusatztherapien ist sinnvoll. Die selbständige Fortführung der erlernten heilgymnastischen Übungen und regelmäßige Kontrolle beim Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie und Physiotherapeuten und eventuell Kontrolle mittels Telerehabilitation als Zukunftsmodell sind zu empfehlen.

Dr. med. univ. Maximilian Schmidt

Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie  mit dem Zusatzfach Sportorthopädie